Mittwoch, 26. November 2008

Die fehlenden Perspektiven beim Texten.

Ich befinde mich heute – thematisch – immer noch im Kleingedruckten. Es geht um die Longcopy. Sie unterscheidet den guten vom sehr guten Texter.

Ich behaupte, dass ein Texter, der sehr gute und ideenreiche Longcopies schreiben kann, auch in der Lage ist, sehr gute Headlines zu formulieren.

Dagegen habe ich schon sehr viele Texter getroffen, die sehr gute Headlines schreiben können, aber keine guten Longcopies. Manche aus dieser Spezies könnten vielleicht sogar gute Longcopies schreiben, aber sie haben keine Lust dazu.

Dem Longcopy schreiben fehlt eben der sex appeal. Aber nur, was Werbung betrifft.

Ein Journalist oder ein Schriftsteller sieht das ganz anders. Für ihn ist die Longcopy seine Daseinsberechtigung. Bei einem Werbetexter ist es genau umgekehrt. Für ihn (bzw. für die meisten von ihnen) ist Longcopy texten der Mühsal des Daseins.

Der Grund ist simpel.

Ein Journalist und ein Schriftsteller wissen, dass ihre Texte meistens gelesen werden. Und in vielen Fällen wissen sie auch, von wem.

Ein Werbetexter weiß, dass seine Texte meistens nicht gelesen werden. Und seine Leser kennt er auch kaum.

Die Diskussion zwischen Agenturen und Kunden, warum überhaupt noch Raum für Copies mit mehr als 500 Anschlägen eingeplant wird, ist eine müßige wie alte.

Fest steht, dass es die Mühen einer Longcopy wert sind, wenn von zehn Betrachtern einer Anzeige nur ein Betrachter mehr wissen will, als in der Headline steht. Vorausgesetzt, es gibt auch mehr zu sagen.

Nun sind, wie ich gestern festgestellt habe, die meisten Anzeigencopies eher zu einer Ansammlung von Bulletpoints ohne Bulletpoints verkommen.

Wer dieser weit verbreiteten Technik etwas anderes entgegen setzen möchte, nämlich eine Textidee, der hat zwei Gestaltungsmöglichkeiten.

Die eine davon ist die Perspektive, aus der man den Text schreibt.

Die andere ist, innerhalb der gewählten Perspektive, einen roten Faden zu spinnen.

Fangen wir mit dem leichteren Gestaltungsmittel an.

Die Text-Perspektive.

Die häufigste Text-Perspektive in der Werbung ist die Hersteller-Perspektive.

Wir haben uns vorgenommen, den XY zu verbessern. Wir haben uns gedacht, dass es endlich mal ein neues XY geben muss. Wir haben für unsere Kunden jetzt ein ganz neues XY-System entwickelt. Wir haben das Ziel, etwas anderes zu machen als die anderen. Wir haben. Wir wollen. Wir werden. Wir sind. usw. usw.

Rund 48% aller Werbetexte agieren nach diesem Formulierungs-Schema.

Die zweithäufigste Text-Perspektive ist die Kunden-Perspektive.

Sie können von uns das und das erwarten. Sie werden spüren, dass wir mehr tun als die anderen. Haben Sie sich schon mal in unseren neuen XY gesetzt? Testen Sie den neuen XY. Lassen Sie sich vom Erfinder des XY überzeugen. etc. etc.

Die zweiten rund 48% aller Werbetexte agieren nach diesem Duktus.

Bleiben zirka 4%, die es anders machen.

Gestern habe ich ein Beispiel von Mercedes-Benz LKWs zitiert. In einem Folder, der „Geschichten in Öl“ heisst, sind Texte aus Sicht eines Tropfen Öls geschrieben.

Eine ungewöhnliche Perspektive.

Und so wie diese gibt es viele ungewöhnliche Perspektiven.

Sobald man eine gefunden hat, fällt das Schreiben des Textes meistens sehr leicht.

Die Gefahr, die in anderen Perspektiven als der Hersteller- oder Kunden-Persektive lauert, ist die Unglaubwürdigkeit. Es kann, je nach Umfeld und Konzeptidee, in der die Copy erscheint, sehr gekünstelt wirken.

Hinzu kommt, das eine Text-Perspektive Raum braucht.

Der gängige Raum einer Print-Anzeige ist für eine ungewöhnliche Perspektive meistens zu knapp. Es sei denn, die Anzeigen-Idee zahlt schon auf eine spezielle Perspektive ein.

Ein dankbares Feld für solche Text-Experimente ist eine Broschüre, ein Mailing oder ganz neu: eine Website.

Ich sage mal, alles an Texten, bei denen mehr als 1200 Anschläge gefragt sind.

Alle kürzeren Formate begeben sich gezwungenermaßen in die altbekannte Hersteller- oder Kundensicht.

Doch auch das muss nicht heißen, das man gleich in die Bulletpoint-Lethargie verfällt.

Wir haben. Wir sind. Wir können. Wir werden. Sie haben. Sie sind. Sie können. Sie werden.

Das ist der absolute Formulierungsalltag. Und gleichzeitig natürlich sehr langweilig und wenig differenzierend.

So kommen wir zur zweiten Gestaltungsmöglichkeit.

Der rote Faden.

Die beiden Beispiele unten sind aus Kunden-Perspektive gerschildert.

Das eine (für Dali Lautsprecher) hat den Faden, dass es ein einziger langer Satz ohne Punkt (aber mit Komma) ist. Die Idee dieses Textes glänzt durch einen Alltags-Fatalismus, der in der Feststellung mündet, dass das Leben mit Dali Lautsprechern besser zu ertragen ist.

Das andere (für eine Schweizer Tageszeitung) vertieft die Fragen in der Headline mit weitern Fragen.

Zugegeben, hier sind die Texte Teil der ganzen Anzeigenidee, aber wer sagt, dass nicht auch klassische Texte solche Ideen tragen können?

Neben diesen roten Fäden gibt es natürlich immer wieder ein gängiges und gern benutztes Schema, am Anfang eines Textes eine These aufzustellen und sie am Ende zu beweisen. Oder zu widerlegen.

Das ist klassisches Handwerk, aber es immer noch weit besser als Bulletpoint-Texten.

Denn Bulletpoint-Texten ist – nicht umsonst – phonetisch sehr verwandt mit Bullshit-Texten.

Tipp 60: Suche dir beim Texten ab und zu eine andere Perspektive als die des Herstellers oder des Kunden.




Fragen über Fragen. Eine Anzeige für den Schweizer Tagesanzeiger von Spillmann/Felser/Leo Burnett, Zürich. ADC Silber 2008.



Fatalismus ohne Punkt, aber mit Komma. Eine Anzeige für dänische Dali Lautsprecher von Geschke/Pufe, Berlin. ADC Silber 2008.

PS: Textbeispiel anklicken macht lesen leichter.

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